Es
war ein heißer Nachmittag. Im Abteil des Zuges saßen ein kleines
Mädchen und ein kleiner Junge mit ihrer Tante. Gegenüber saß ein junger
Mann. Der sagte kein einziges Wort. Die anderen redeten dafür umso
mehr. "Warum sind die Schafe auf der Weide?"
"Hör auf, mit den Füßen gegen den Sitz zu treten!" - "Warum ist es so warm?" "Hör auf, die
Fensterscheibe abzulecken!" - "Warum
...?" "Hör auf ...!" "Warum ...?" So ging es in einem fort. "Hört
auf! Kommt, ich erzähle euch eine Geschichte", schlug die Tante vor.
Unterbrochen von vielen Warums, erzählte sie eine elend lange
Geschichte über ein kleines Mädchen, das sehr brav war und deshalb von
allen sehr geliebt wurde. "Eine ziemlich langweilige Geschichte", sagte
plötzlich der junge Mann. "Erzählen sie doch eine, wenn sie es besser
können", erwiderte die Tante beleidigt.
"Es
war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Hannelore", begann der junge
Mann, "und es war außerordentlich brav." Die Kinder seufzten.
"Hannelore machte immer ihre Hausaufgaben", fuhr der junge Mann fort,
"räumte ihr Zimmer regelmäßig auf, putzte sich dreimal am Tag die
Zähne, aß niemals Süßigkeiten und tat alles, was ihr gesagt wurde ..."
"War sie hübsch?", unterbrach das kleine Mädchen. "Nicht so hübsch wie
du", sagte der junge Mann, "aber sie war entsetzlich brav.
Ja,
Hannelore war so brav, dass sie schon mehrere Auszeichnungen bekommen
hatte: eine Medaille für Gehorsam, eine weiter für Pünktlichkeit und
eine für gutes Benehmen. Es waren große Medaillen aus Metall und
Hannelore trug sie jeden Tag an ihr sauberes Kleid geheftet, wo sie
beim Gehen aneinander klirrten. Weil Hannelore so brav war, erlaubte
ihr der Prinz des Landes in seinem Park spazieren zu gehen. Es war ein
wunderschöner Park, der eigentlich für Kinder verboten war, und deshalb
war es für Hannelore eine große Ehre." "Gab es Schafe in dem Park?",
wollte der kleine Junge wissen. "Nein", antwortete der Mann. "Warum
nicht?", fragte der kleine Junge. "Weil die Mutter des Prinzen einmal
geträumt hatte, dass der Prinz entweder von einem Schaf oder von einem
herunterfallenden Wecker getötet werden würde. Deshalb waren Schafe und
Wecker im ganzen Königreich verboten."
"Aber
es gab viele kleine Schweine in dem Park", fuhr der junge Mann fort.
"Zuerst war Hannelore traurig, weil dort keine einzige Blume wuchs."
"Warum nicht?", fragte das kleine Mädchen. "Die Schweine hatten sie
alle gefressen. Der Gärtner hatte dem Prinzen gesagt: >Entweder
Schweine oder Blumen<, und der Prinz hatte sich für die Schweine
entschieden.
Es
gab viel Schönes zu sehen. Wenn ich nicht ein so braves Mädchen wäre,
dachte Hannelore, während sie die Wege entlang stolzierte, dann hätte
der Prinz mir diesen Spaziergang nie gestattet. Und ihre Medaillen für
Gehorsam, Pünktlichkeit und gutes Benehmen klirrten aneinander.
Plötzlich
schlich sich ein großer grauer Wolf in den Park. Er wollte sich ein
kleines Schwein zum Abendessen holen. Das Erste was er sah, war
Hannelores weißes Kleid. Es war so sauber und rein, dass es einem schon
aus weiter Entfernung ins Auge stach. Was für ein appetitlicher Happen,
dachte der Wolf und galoppierte auf Hannelore zu. Sie rannte um ihr
Leben.
Schnell
versteckte sie sich in einem dichten Busch am Wegrand. Der Wolf, der
Hannelore nicht mehr sehen konnte, wollte sich schon davonmachen. Da
hörte er ein Klirren. Hannelore zitterte so, dass die Medaille für
Gehorsam gegen die Medaille für gutes Benehmen stieß. Der Wolf spitzte
die Ohren. Das Geräusch kam aus dem Busch zu seiner linken. Mit einem
gewaltigen Satz sprang er mitten hinein. Und, was soll ich euch sagen?
Er fraß Hannelore auf. Alles was übrig blieb, waren ihre drei
Medaillen."
"Wurde
eines der Schweine getötet?", fragte das kleine Mädchen. "Nein, sie
haben alle überlebt", beruhigte sie der junge Mann. "Die Geschichte hat
schlecht angefangen", meinte das kleine Mädchen, "aber sie hatte ein
wunderbares Ende!" "Die beste Geschichte, die ich je gehört habe!",
sagte der kleine Junge entschieden.
Die Tante war ganz anderer
Meinung. "Eine höchst unanständige Geschichte", kreischte sie. "So
etwas kleinen Kindern zu erzählen! Sie haben jahrelange gute Erziehung
zunichte gemacht!" "Aber wenigstens waren die Kinder für zehn Minuten
still", entgegnete der junge Mann. "Das ist mehr, als sie geschafft
haben." Und er packte seine Sachen zusammen, da der Zug gerade in den
Bahnhof einfuhr. "Die arme Frau", murmelte er, während er ausstieg, "in
den nächsten Monaten werden die Kinder sie ständig um eine unanständige
Geschichte bitten!"
Quelle:
Pixi-Buch Nr. 979, "Hannelore geht spazieren", Serie 115, 1. Auflage
1999, Carlsen Verlag GmbH, PF 500380, 22703 Hamburg. ISBN
3-551-03979-8.
Eine Geschichte von
Saki, nacherzählt von Barbara König
mit Bildern von Hauke Kock. Erhältlich im Buchhandel, Preis ca. 1€.