Wir
Ehemaligen - Erinnerungen
Dr.-Marc-Turm
zwischen Bad Wildungen und Odershausen
Der
steinerne Turm aus braunen Bruchsteinen steht oben am Sonderrain auf
einer Tonschieferklippe hoch über dem Sonderbachtal und dem Helenental
mit seine Helenenquelle. Er hat eine ganz markante Form, so als ob er
eine Pudelmütze trüge. Um diesen Turm rankt sich eine schaurig schöne
Geschichte aus alter Zeit. So soll er einst oben auf der Klippe
errichtet worden sein, um an den sehr geschätzten Wildunger Arzt Dr.
Wolrad Marc zu erinnern. An genau dieser Stelle, nahe der Straße von
Bad Wildungen nach Odershausen nämlich, soll Dr. Marc vor fast 100
Jahren in dunkler Nacht mit seiner Kutsche vom Wege abgekommen und über
den Rand der Klippe hinunter ins Helenental abgestürzt und dabei zu
Tode
gekommen sein.
So wurde es früher – und so wird es auch heute noch – oft erzählt.
Doch in Wirklichkeit war das alles etwas anders.
Das Unglück mit der Kutsche hat tatsächlich am Sonderrain
stattgefunden, doch geschah es viel früher, nämlich am 11. November
1824, also noch einmal fast 100 Jahre vor Dr. Marc. Und der
Unglückliche war nicht Arzt, sondern Pfarrer.
Pfarrer Heinrich August Hoffmann war der Pate von August Heinrich
Hoffmann. Dieser wiederum wurde bekannt als Hoffmann von Fallersleben,
wurde am 2. April 1798 in
Fallersleben geboren und ist der Dichter des „Liedes der Deutschen“,
des
Deutschlandliedes, der deutsche Nationalhymne. Pfarrer Hoffmann also
war
1823 in Mühlhausen im Waldeckischen als Pfarrer tätig (heute Gemeinde
Twistetal).
Anfang des Jahres 1824 verstarb der Odershäuser Pfarrer Strube. Mehrere
Kollegen bemühten sich um seine Nachfolge. Das Konsistorium des
Fürstentums Waldeck und Pyrmont, jene Abteilung der waldeckischen
Regierung, die damals für Schul- und Kirchsachen zuständig war,
entschied sich jedoch für Pfarrer Hoffmann aus Mühlhausen als
Nachfolger von Pfarrer Strube. So wurde folgerichtig Pfarrer Hoffmann
am 19. September als Pfarrer des Kirchspiels Odershausen vorgestellt
und eingeführt. Leider konnte er mit seiner Familie nicht sofort ins
Odershäuser Pfarrhaus einziehen, weil er noch verschiedene
Angelegenheiten in Mühlhausen zu regeln hatte. So musste er unter
anderem noch die Feldfrüchte des Pfarreilandes einbringen, die ein
wesentlicher Teil seines Einkommens waren und die ihm für das Jahr 1824
noch zustanden. Das zog sich allerdings bis in den November hin.
Erst am 11. November 1824 machten sich Pfarrer Hoffmann zusammen mit
seinem Knecht in einer Zweispänner-Kutsche auf den ca. 55 km langen Weg
von Mühlhausen
nach Odershausen. Bei ungünstigem Wetter erreichten beide jedoch erst
am späten Nachmittag bei einsetzender Dunkelheit den Ort Alt-Wildungen,
der auf der Strecke lag. Sie versuchten, eine Wagenlaterne für die
Weiterfahrt zu borgen, hatten damit aber keinen Erfolg. So setzten
beide ihre Fahrt nach Odershausen ohne Licht fort.
Gleich hinter Nieder-Wildungen aber, nicht weit vom Wäschebach auf dem
Langen Rod, schlugen sie den falschen Weg ein, nämlich
fälschlicherweise nach Osten Richtung Zwesten. Ein zufällig
vorbeikommender Schäfer machte sie auf ihren Irrtum aufmerksam und
beschrieb ihnen den richtigen Weg nach Odershausen, das nicht mehr weit
entfernt war. Die Straße war damals nur ein etwas besserer,
ausgefahrener Feldweg. Pfarrer Hoffmann und sein Knecht dankten dem
Schäfer und setzten ihre Fahrt auf dem Feldweg fort. Dieser besann sich
eines
Besseren, lief dem Wagen nach und bot ihnen sogar an, sie nach
Odershausen zu führen. Das Angebot schlug Pfarrer Hoffmann jedoch aus
und meinte, das sei nicht nötig. Der Schäfer habe den Weg ja so gut
beschrieben, dass sie ihn nicht verfehlen könnten. So fuhr die Kutsche
ohne Begleitung weiter. Der Knecht ging dabei nicht neben den Pferden
her, sondern lenkte das Gespann vom Wagen aus. In der Dunkelheit jedoch
sahen sie eine Wagenspur vor sich, folgten ihr und kamen dabei erneut
vom Wege ab, denn diese Spur stammte von den Fuhrwerken der Wildunger
Bauern, die Mist auf ihre Felder am Sonderrain gefahren hatten.
So nahm das Unglück unaufhaltsam seinen Lauf, denn niemand bemerkte,
dass die Kutsche geradewegs auf den steilen und felsigen Abhang zum
Sonderbachtal zuhielt. Der Knecht trieb in der Dunkelheit die Pferde
vorwärts. Vom Wagen aus war nicht zu sehen, wovor die Tiere scheuten.
Vielleicht wollten sie einfach nur verschnaufen! Aber so kurz vor dem
Ziel wollten die beiden Reisenden wohl keine weitere Pause einlegen und
so trieb der Knecht die Pferde zum Weitergehen an. Und so stürzte
plötzlich die Kutsche mit den Pferden zusammen mit den beiden Männern
die schroffen Felsen 70 m hinab.
Als der Ort des Geschehens dann später bei Tageslicht untersucht wurde,
konnte man den Hufspuren entnehmen, wie sehr sich die Pferde dem
Weitergehen widersetzt haben mussten.
Wie durch ein Wunder erlitt der Knecht nur unbedeutende Verletzungen,
war allerdings kurze Zeit ohne Bewusstsein. Als er wieder zu sich
gekommen war, sah er eines der Pferde neben sich stehen. In der
Annahme, der Wagen sei oben am Sonderrain hängengeblieben und der
Pfarrer sei noch auf dem Wagen, rief der Knecht nach ihm. Aber er
erhielt keine Antwort mehr. Da es völlig sinnlos war, in der Dunkelheit
das felsige und bewachsene Gelände abzusuchen, machte sich der Knecht
auf den Weg, um Hilfe zu holen. Die fand er in der ca. 1200 m
entfernten Ölmühle. Diese befand sich damals dort, wo heute das
Schwimmbad Heloponte liegt.
Der Müller und seine Leute eilten zur Unglücksstelle, kamen aber zu
spät. Sie fanden Pfarrer Hoffmann tot vor, mit dem Gesicht in einem
Wassergraben. Das zweite Pferd seines Gespanns lag auf ihm. Er wäre aus
eigener Kraft nicht aus dem Wasser herausgekommen. Man brachte den
Toten dann ins Wildunger Rathaus. Eine genauere Untersuchung des
Leichnams ergab, dass Pfarrer Hoffmann aufgrund der schweren
Kopfverletzungen durch den Sturz über die Felsen wohl bereits tot
gewesen sein musste, bevor er unten im Wassergraben landete. Diese
Kopfverletzungen waren wohl die Todesursache.
Unerklärlich für alle war aber, dass der Knecht den Klippensturz fast
unverletzt überstanden hatte und auch die Pferde nur relativ
geringe Verletzungen davongetragen hatten, während der Pfarrer dabei
den Tod fand und der Wagen völlig zertrümmert im Sonderbachtal
(Helenental) lag. Der Knecht kehrte später nach Mühlhausen zurück,
während der Pfarrer am 14. November 1824 unter Teilnahme des
Magistrats, sämtlicher Honoratioren des Stadtrates und vieler Wildunger
und Odershäuser Bürger durch Pfarrer Karl August Seehausen auf dem
Friedhof von
Nieder-Wildungen (heute Alter Friedhof Breiter Hagen) beerdigt wurde.
Dieser veröffentlichte 1825 in Mengeringhausen eine kurze Darstellung
in Form eines
16-seitigen Büchleins mit dem Titel „Kurze Darstellung der letzten
Lebensumstände und des merkwürdigen Todes weiland Pfarrer Hoffmanns zu
Odershausen“. Mit dem Erlös aus dem Verkauf des Büchleins wollte er die
Familie des Verstorbenen unterstützen.
Alter Friedhof am Breiten Hagen
Der außergewöhnliche Turm hat also nichts mit dem Unglück von damals zu
tun, außer dass
er zufällig am Sonderrain über dem Helenental steht, in der Nähe des
damaligen Unglücksortes. Die Unglücksstelle von damals, wo Pfarrer
Hoffmann zu
Tode kam, liegt ca. 300 m nördlich
des Turmes, also 300 m weiter Richtung Bad Wildungen.
Und doch ist es nicht zu
glauben, dass ...
sich nach fast 196 Jahren, am Freitag, dem 9. Oktober 2020, dieses
sehr tragische Unglück an den Klippen des Sonderrains, oben am
Sonderbachtal, hoch über dem Helenental wiederholte und zum zweiten Mal
"eine Kutsche" über die Klippe fuhr und hinunterstürzte.
Aus noch ungeklärter Ursache fuhr nämlich ein Mann mit seinem Auto,
einem
kleinen Smart, nur wenige Meter vom Dr.-Marc-Turm entfernt über die
steile Klippe. Das Auto rutschte dann 200 m den Hang hinunter und
blieb
am Ende zwischen den Bäumen hängen. Der Fahrer wurde wie durch ein
Wunder kaum verletzt und konnte von Bergwacht, Feuerwehr und
Rettungsdienst aus seinem zerstörten Wagen geborgen werden. Weder oben
vom Turm noch unten vom Weg im Helenental aus war das Auto allerdings
auszumachen, so versteckt hing es zwischen den Bäumen.
Erst am Dienstag, dem 13. Oktober konnte dann das Autowrack in einem
spektakulären, dreistündigen Einsatz eines Abschleppunternehmens
zusammen mit der DRK-Bergwacht unter Zuhilfenahme eines großen
Schwerlastkrans aus dem unter Naturschutz stehenden Hang am Sonderrain
mit 45 Grad Hanglage geborgen werden. Dazu musste der Kranausleger
jedoch 31 Meter weit ausgefahren werden, bevor der Smart dann endlich
am Haken hing.
Beide Fotos von der Bergung: Matthias Schuldt, Waldeckische
Landeszeitung
Trotz der großen Herausforderung und der extrem schwierige Bergung
blieben alle Beteiligten glücklicherweise unverletzt. Wie der Fahrer
allerdings von der Straße aus über das recht unzugängliche Gelände über
einen schmalen Spazierweg bis zum Turm gekommen ist, bevor er über die
Klippe abstürzte, wurde bisher noch nicht ermittelt.
Der Namensgeber des Turms
Königlich Württembergischer
Geheimer Sanitätsrat Dr. Wolrad Marc
Der Dr.-Marc-Turm aus hellbraunen
Bruchsteinen aus dem Odershäuser Steinbruch wurde im Jahre 1921 zu
Ehren und zur Erinnerung an den Arzt und Königlich Württembergischen
Geheimen Sanitätsrat Dr. Wolrad Marc errichtet, der am 9. Oktober 1846
geboren wurde. Der Kurarzt und Urologe war sehr beliebt und wurde
aufgrund seiner Verdienste um die Wildunger Kur hoch geschätzt. Viele
dankbare Patienten von ihm und Kurgäste aus Nah und Fern spendeten Geld
für den Turmbau und auch die Stadt Bad Wildungen steuerte ihren Teil
dazu bei, so dass eine stattliche Summe zusammenkam, nämlich 25000 Mark.
alte Aufnahme, kurz nach der Erbauung
Der Turm ist ca. 7,10 m hoch, hat einen Außendurchmesser von ca. 4,80 m
und einen Innendurchmesser von ca. 3,20 m. Er hat die Form einer sich
nach oben hin verjüngenden Rundhalle mit 6 jeweils ca. 60 cm breiten
Pfeilern auf einem Unterbau. Die Kuppel ist glockenförmig und hat ganz
oben einen eiförmigen Körper von ca. 30 cm Höhe als Abschluss. Die 6
fensterähnlichen Öffnungen sind ca. 1 m breit. Die nach Osten zeigende
Öffnung ist durch Steine verschlossen, die anderen sind frei und die
nach Westen zeigende Öffnung ist auf ihrer ganzen Höhe als Eingangstür
freigelassen. Um in den Turm zu gelangen, muss man 3 Steinstufen
hinaufgehen. Die Fertigstellung war 1921, genau am sechsten Todestag
von Dr. Marc, der am 16. November 1915 in Bad Wildungen verstorben war
und zwar eines ganz natürlichen Todes. Im Turminneren an der Wand
gegenüber
dem Eingang befindet sich eine Gedenkplatte mit seinem Namen.
Oben auf den Klippen - Blick hinunter in das Helenental (ca. 1910) -
der Lieblingsplatz von Dr. Marc
Als Standort für den Turm zu Erinnerung an Dr. Marc wurde damals nun
aber genau der besondere Platz ausgewählt, den er selbst zu seinen
Lebzeiten
als seinen Lieblingsplatz in Bad Wildungen und Umgebung bezeichnet
hatte. Deshalb steht der Turm also dort oben auf der Sonderrainklippe
und
thront hoch oben über der Helenenquelle. Seine GPS-Koordinaten lauten:
N 51° 06.156 und E 09° 07.013. Heute liegt der Turm in einem
Naturschutzgebiet von ca. 5 ha Fläche, das zudem Teil des europäischen
Schutzgebietssystems Natura 2000 ist. Die steilen Felshänge östlich des
Sonderbaches sind ganz besonders sonnig, so dass sehr seltene,
wärmeliebende Pflanzenarten dort zu finden sind, zum Beispiel die
violett blühende Küchenschelle.
Im Laufe der vielen Jahre seit seiner Fertigstellung hatten Wind und
Wetter dem Turm stark zugesetzt. Im Frühjahr 2009 wurde damit begonnen,
den Turm wieder herzurichten. Anstoß hierzu gab der Rotary Club Bad
Wildungen-Fritzlar, der sich auch an der Finanzierung der
Instandsetzungskosten beteiligte. Die
Fugen des Gemäuers wurden ausgespritzt, die Steine anschließend durch
Sandstrahlen gesäubert. Auch die Außenanlage wurde erneuert und
umgestaltet.
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vor
der Restaurierung in 2007
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nach
der Restaurierung 2009
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Wenn Sie also heute dem Dr.-Marc-Turm einen Besuch abstatten (bitte den
südlicher liegenden Waldparkplatz Richtung Odershausen und nicht den
Behindertenparkplatz direkt am Turm benutzen), dann kennen Sie nun die
beiden Geschichten, die sich vor langer Zeit dort in der Gegend
zugetragen haben und die dazu geführt haben, dass noch heute "der Turm
mit der
Pudelmütze" über dem Sonderrain aufragt.
GRav
27.11.2020
Quellen:
- Artikel "Pfarrer Hoffmann und
der Arzt Dr. Marc" von Stadtarchivar Manfred Hülsebruch, Bad Wildungen,
WLZ vom 25.11.2016
- Info-Schautafel am Dr.-Marc-Turm
- August Heinrich Hoffmann,
bekannt als Hoffmann von Fallersleben. Autobiographisches "Mein Leben",
1. Band
- Waldeckischer Geschichtsverein,
"Waldeckische Bibliographie", bearbeitet von Heinrich Hochgrebe 1998,
Internetpräsentation (PDF) von Dr. Jürgen Römer 2010, S. 114.
- Jahrbuch "700 Jahre Odershausen
– Geschichte und Geschichten 1309-2009", herausgegeben vom Verein zur
Förderung der Dorfgemeinschaft e.V. im Jahr 2009, S. 177-178.
- Eigene Messungen und
Berechnungen direkt am Turm, GRav 15.01.2017
- Schwarzweißfotos: C. F.
Rothauge, Bad Wildungen und Schöning & Co., Lübeck
- Artikel "Auto spektakulär aus
Hang geborgen" von Matthias Schuldt, Wildunger Zeitung vom 14.10.2020,
Seite 8
- Farbfotos: GRav